Text: Wolf Reiser
Was verband uns bis zu diesem Winter mit dem Epirus? Eigentlich nur die Melodien des heute 86-jährigen Petroloukas Halkias, diese hypnotisierende dahinfließende Musik der Hirten und Schäfer, wo es Klarinette und Violine schaffen, die großen Gefühle von Einsamkeit, Sehnsucht und Imagination wie auch Freude, Freiheit und Heimatliebe auszudrücken.
Dabei waren wir so oft in Igumenitza mit der Fähre aus Italien hier angekommen. Doch gleich nach dem obligatorischen Begrüßungsouzo ging es in sinnloser Hast ab in den Süden, schnell runter, zu den Sandstränden Messiniens oder hinüber zum Orakel und den Tempeln von Delfi.
Mitte Dezember nähern wir uns dem Epirus von Saloniki aus, auf der Autobahn der tunnelreichen Via Ignatia in Richtung Ionnina, jener historischen Route, die Rom mit Byzanz verbindet. In der Ferne leuchten herbstliche Wälder und mächtige Schluchten erscheinen je näher wir dem schnee-bedecktenPindos-Gebirge kamen, das mit dem 2637 m hohen Smolikas den zweithöchsten Gipfel Griechenlands aufweist.
Nach etwa 250 Kilometern erreichen wir die von einem Meer aus bleigrauem Nebel verdeckte Hauptstadt des Epirus. In weitgefassten Abwärtsschlingen schleichen wir durch den surrealen Spuk. Die Einfahrtsallee nach Ionnina offenbart dann das gewohnte Bild hellenischer Tristesse: Hausruinen, Tankstellen, Baumärkte, Karosseriebetriebe, dreistöckige Lampenläden, Spielsalons, verwaiste Parks.
Vom „The Lake“ Hotel aus sind es nur ein paar Schritte zum historischen Zentrum der Hauptstadt des Epirus.
Das sog. Kastro-Viertel ist nahezu vollständig von sandbraunen Mauern umgeben. Im Süden der weitläufigen Festung befindet sich das alte Palastareal, von dem nur noch die Grundmauern stehen. Dasschmucklose Grab von Ali-Pascha, dem „Löwen von Ionnina“ befindet sich direkt vor der Fetiye, einer der beiden perfekt erhaltenen Moscheen, deren hohe Minarette das Stadtbild des Viertels prägen. Das Mausoleum enthält allerdings nur den Leib. Der Kopf des damals 82-jährigen Herrschers wurde sicherheitshalber an den Bosporus zu Mahmud II. geschickt. Nicht weit entfernt liegt seit 2016 als Museum der epirotischen Silberkunst. Auf zwei stimmungsvoll illuminierten Etagen werden filigrane Objekte aus osmanischer Zeit gezeigt und dazu auch viel Hintergrundwissen zu Geschichte und Herstellungstechnik vermittelt. Einen Straßenzug weiter, in der alten Zitadelle ist das Byzantinische Museum untergebracht, wo reichhaltige Exponate die Blüte der Stadt in der vorgriechischen Zeit illustrieren.
Entlang der Averoff-Strasse gewinnt diese seltsam unstrukturierte Stadt an Eleganz. Zwischen ottomanisch-albanischer Architektur befinden sich Villen des Neoklassizismus und Patrizierhäuser mit italienischem Flair. Boutiquehotels stehen neben kleinen Kirchen, Souvenirläden wechseln sich mit schick aufgemachten Boutiquen ab. Nach und nach füllen sich auch zur Happy Hour die Kaffees, Kneipen und Bars. Fast ein Fünftel der 120 000 Einwohner sind Studenten der Uni und Fachhochschulen.
Im Gegensatz zu Attika und dem Peloponnes wurde der Epirus erst 1913 ein Teil des neuen Griechenlands. Bis dahin herrschten Venezianer, Albaner und Osmanen. Stets begegneten sie den Romanioten, also griechisch sprechenden Juden mit ihren ganz eigenen Sitten und Bräuchen mit größter Toleranz. Damit war erst Schluss, als im März 1944 deutsche Truppen das direkt am Ioannina-See gelegene jüdische Viertel umstellten. Knapp 2000 Menschen, gut 95 % der jüdischen Bevölkerungsgruppe wurden mit Lastwagen in das KZ Larisa gebracht, von dort aus per Zug aus Athen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Bei der letztjährigen Wahl wurde der 65-jährige Moses Elisaf mit 50,3 Prozent der Stimmen sensationell zum Bürger-meister ausgerufen. Davor hatte er 17 Jahre lang als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde amtiert. Auf ihn warten große Herausforderungen: Dichter Verkehr, kaum Parkplätze, mangelnde Straßenbeleuchtung, wenig Kinderspielplätze. Im Gespräch verbreitet der nachdenkliche Politiker aber erfrischend viel Zuversicht: „Nicht nur Albanien, sondern auch Kroatien, Montenegro, alle Länder des Westbalkans kommen auf einmal näher zu uns heran; sogar aus Sofia fährt man heute über die neue Autobahn in vier Stunden nach Ioannina.“ Und dann fügt er hinzu: „Wir haben damit die einmalige Chance, zu einer Regional-Metropole mit inter-nationaler Ausstrahlung aufzusteigen.“
Die Hauptgasse von unserem Hotel, die nach Lord Byron benannte Odos Vyronos, führt uns zur Uferpromenade des Pamvotis-Sees.
Mit 23 qkm ist das bis zu 15 m tiefe Gewässer der größte natürliche See im Epirus. Baden sollte man darin besser nicht, weil er seit Jahren durch Abwässer aus der Landwirtschaft stark belastet. Wenig deutet in Ionnina auf dieses Juwel der Natur hin. Es gibt kaum Hinweisschilder, es fehlt die sonst typische touristische Rivierastimmung und man hat das verstörende Gefühl, dass die Hauptstädter herzlich wenig mit ihrem Wahrzeichen zu tun haben wollen.
Nahe der monumentalen Platanen und uralten Ahornbäume befindet sich die unscheinbare Anlegestelle. Von hier aus pendeln kleine Passagierfähren halbstündlich zu der kleinen To Nisaki-Insel. An Bord befinden sich eine kleine chinesische Reisegruppe, nach Naphtalin duftende, schwarzgekleidete Frauen mit Plastiktüten voller Stadteinkäufe und zwei semilivrierte Jungs, die sich um das Abzacken der Zweieuro-Tickets kümmern. Aus rostigen Boxen scheppert Rembetico. Nach einer Viertelstunde signalisiert ein kuhähnliches Tröten die Ankunft.
Die Insel ist von länglicher Form, etwa einen Kilometer lang und 500 m breit. Schilf und Papyrus säumen die Ufer und das weitere Inselinnere ist von Pinien und Zypressen geprägt. Heute leben hier kaum 150 Menschen, die allesamt von diesem kleinenFremdenverkehr leben. Hinter der winzigen Mole befinden sich kleine Bootswerften und hübsch dekorierte Tavernen. In den sprudelnden Vitrinen werden bar jeder Aufdringlichkeit Süßwasserkrebse und lebende Aale präsentiert. Darüber hinaus bietet der See seinen Anrainern Fröschen, Kröten, Karpfen, Forellen und sogar Störe.
Erinnerungen an Hydra und Kavala werden wach beim Flanieren entlang der Silbergeschäfte, Zuckerbäckereien und urgemütlichen Lokalen, von denen nicht wenige auf Froschschenkel spezialisiert sind. Und auch hier erleben wir, dass die Bestellung eines Ouzo im Epirus gänzliche andere Blüten treibt als im hellenischen Restland. Dem Glas mit Eiswürfeln folgen in wohlsamen Abständen Teller mit Hühnchen, Schweinefilet, Gemüse, Kartoffelgratin,
Variationen der grandiosen Epiruskäsesorten, geräucherter Fisch abgeschmeckt mit kräftigen appetitlichen Saußen. Das könnte auch der Grund dafür sein, dass die streunenden Hunde in ganz Epirus die Größe von Shetland-Ponys erreichen und mit dem arroganten Tempo von Schildkröten die Plätze und Straßen überqueren.
Hauptsehenswürdigkeiten sind hier die sieben Klöster, in denen sich bedeutende Zeugnisse byzantinischer Freskenkunst befinden, eine hölzerne Ikonostase und mysteriöse Wandmalereien aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Der absolute Höhepunkt befindet sich am westlichen Ende und betrifft das Museum von Ali Pascha. Ende des 18. Jahr-hunderts wurde er Gouverneur von Epirus. Dieser widersprüchliche Potentat kümmerte sich dabei wenig um die Istanbuler Vorgaben, sondern baute sich mit anarchischer Chuzpe einen autonomen Machtbereich auf. Dabei stützte er sich auf seine treuen albanischen Kämpfer sowie auf griechische Rebellen und Klephten, die mit der osmanischen Herrschaft unzufrieden waren. Parallel spielte er Frankreich und England gegeneinander aus und ab 1807 herrschte er nahezu unabhängig über große Teile Albaniens und Griechenlands. 1809 verbrachte Lord Byron einige Zeit am Hof Ali Paschas und hinterließ farbenprächtige Schilderungen des turbulenten Lebens. Im Oktober 1820 hatte man an den Hohen Pforte genug vom Chaos. Der Sultan schickte Truppen nach Ioannina, belagerte die Stadt über 15 Monate lang und lockte ihn schließlich im Februar 1822 mit einer List aus dem Kastell. Letztendlich wurde der 82-jährige hier in diesem Klostergebäude von Kopfgeldjägern des Sultans im selben Jahr erschossen, worauf er in den Armen seiner wunder-schönen orthodoxgläubigen Geliebten sein abenteuerliches Leben aushauchte. Man kann außer jener Zelle noch viele Lithografien, Kupferstiche und Textilien aus seiner Epoche bewundern, in der er trotz aller Paradoxien dem Epirus eine wirtschaftliche und geistige Blüte bescherte.
Nach zwei Tagen zieht es uns in die nahen Berge.
Uralte Handelswege führen uns durch archaische Landschaften mit rauschenden Wasserfällen, historischen Steinbrücken und wilden Canyons. Ende des 16. Jahrhunderts bereits entwickelten sich die Zagorianer, so nennt man die Bewohner der 46 Bergdörfer zu erfolgreichen Handelsreisenden, die mit ihren Maultier-karawanen bis an die Küsten des Schwarzmeers gelangten. Es ist ihrem alten Geld zu verdanken, dass ihre Heimatdörfer heute noch versteckte Klöster, prächtige Kirchen, schöne Brunnenanlagen und beeindruckende Natursteinvillen mit glitzernden Schieferdächern aufweisen. In der Regel befinden sich unterhalb der jahrhundertealten Platane, welche die Dorfmitte beherrscht 2-3 heimelige Tavernen, in denen es im Winter zu rassigem Wein und kräftigem Tsiporo köstliche Wildgerichte gibt, Lammbraten, Backhühnchen und Käsevariationen. Die kleinen Pensionen werden vornehmlich von Schluchten-wanderern, Flußraftern und Paraglidern frequentiert.
Bevor wir Richtung Preveza weiterfahren, machen wir südlich von Ionnina noch einen Abstecher ins Bergdorf Elleniko. In der dortigen Grundschule wurde vor genau 10 Jahren das „Museum Zeitgenössischer Kunst Theodoros Papagiannis“ eröffnet. Der heute weltberühmte und vielfach prämierte Papayannis begann hier bereits als 5-jähriger seine Lehrer und Kameraden zu portraitieren. Viele seiner Plastiken, Gemälden Collagen und Metallskulpturen widerspiegeln die karge Gebirgslandschaft mit ihrer grauen Steinarchitektur. Man erahnt die glückliche Einsamkeit seiner Kindheit, die endlose Zeit für Wanderung und Kontemplation, die Liebe zu Natur und Heimat.Sein Stil verkörpert Respekt und Sparsamkeit gegenüber den vielfältigen Materialien und schlägt einen Bogen zur Würde des Handwerks des Epirus. Vor allem seinen jüngeren Werken, die teilweise reich mit silber-schmiedeartigem Dekor versehen sind, ist diese postmodernis-tische Rückkehr zu lokalen Traditionen anzusehen.
In einem Kommentar zum Museumskatalog bezeichnete die Professorin für Kunstgeschichte, Marina Lambraki-Plaka, seine Kunst als zeitgenössisch mit einem antiken „touch“. 2006 bekam er den ersten Preis in einem internationalen Wettbewerb für die „The Runners“ auf dem Internationalen Flugplatz in Chicago.
Zehn Kilometer vor Preveza stoßen wir auf die römischen Reste von Nikopolis, quaso Stadt des Sieges, die sich am Ambrakischen Golf befindet. Sie wurde 31 v. Chr. durch Octavian gegründet, nachdem dieser am 2. September 31 v. Chr. die Flotte von Marcus Antonius und Kleopatra in jenen nachcaesarischen Wirren geschlagen hatte. Zu dieser Zeit lebten 320.000 Menschen in Nikopolis und das beeindruckte auch Paulus, der hier zu Beginn 63 n. Chr. auf seiner letzten Missionsreise Richtung Rom Station machte. 293 n. Chr. wurde sie Hauptstadt von Epirus und mit den Goteneinfällen im 5. Jahrhundert begann der langsame Niedergang. Fasziniert spazieren wir durch den wunderbaren archäologischen Park mit dem Odeum, der Nordtherme, dem großen Theater, dem römischen Wall und dem Landhaus von Antonius mit seinem bemerkenswerten Mosaikfußboden.
Den Liebhabern von Poesie und Drama fällt bei Preveza das seltsame Schicksal des lebensmüden Dichters Kostas Karyotakis. Dieser hatte am 20. Juli 1928 keine Lust mehr auf provinzielle Enge. Am endlosen Strand von Monolithi warf er sich in die Fluten. Stundenlang zog sich der lautlose Kampf mit den Wellen dahin, bis ein zufällig vorbeigehender Bauer den nassen Sack entdeckte und ihn aus dem flachen Wasser zog. Karyotakis notierte Stunden später in einem Cafehaus: „ Ich rate all jenen, die schwimmen können, niemals zu versuchen, sich im Meer das Leben zu nehmen. Letzte Nacht habe ich zehn Stunden lang mit den Wellen gekämpft. Ich habe viel Wasser geschluckt, aber mein Mund gelangte, ich weiß nicht wie, immer wieder an die Oberfläche. Sicher werde ich, wenn mir die Gelegenheit dazu gegeben wird, einmal über die Eindrücke eines Ertrunkenen schreiben.“
Dieser Gelegenheit beraubte er sich wie auch der Nachwelt. Denn am nächsten Morgen ging er mit einer Pistole zur Kirche Agios Sypiridou, legte sich unter den Eukalyptusbaum, flüsterte: „Ich erschieße die Zukunft“, drückte ab und starb erfolgreich.
Dabei lässt es sich in diesem zauberhaften Städtchen gut leben. Es ist von drei Seiten vom Meer umspült und offenbart immer wieder großartige Panoramen. Ein erster Stadtbummel führt uns zu dem altem venezianischen Schloss,zur Hauptkirche Agios Haralambos mit wertvollen Ikonen und einer Chorwand, die mit filigranen Goldschnitzereien überzogen ist. Dann geht es durch blumengeschmückte enge Gassen vorbei an floralen Springbrunnen und kleinen Privatgärtchen hin zur Kirche Agios Athanasios mit den spektakulären Wandmalereien und einem märchenhaften Glockenturm. Auch die Vrissoula-Bastion, der hochragende Uhrturm und die Festung Agios Andreas vermitteln uns Gefühl einer heiteren und sinnlichen Lebenskultur.
Im weiträumigen Hafenbecken kehren am späten Abend die schunkelnden Kaikis zurück, von denen aus die Fischer die Gastwirte mit frischen Barben, Bärenkrebsen und Shrimps versorgen. Im „Ventura“ überrascht uns der junge Besitzer mit hausgemachtem Bottarga. Dieser so hochgelobte wie seltene griechische Kaviar wird aus den Eiern der Meeräsche hergestellt. Als Apetizer bekommen wir zum gerösteten Knoblauchbrot einige rohe dünne goldgelbe Scheiben dieser Delikatesse in Butter und Olivenöl geschwenkt und danach im Hauptgang in kleinen safrangelben Würfeln zur Veredelung der Fussilipasta.
Am Morgen danach sitzen wir bei strahlender Sonne auf der Terrasse des Captains House, einem hinreißenden 6-Zimmer-Hotel im Herzen der Altstadt. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen und noch einmal auf jene entrückte Epiruswoche zurückzu-blicken. Auf Schneekuppen, Nebelmysterien, Ali Paschas Froschschenkelinsel, fröhliche Nächte in den Musikbars der Hauptstadt, beeindruckende Skulpturen im Bergnirwana, Flußlandschaften, römische Ruinen, ionische Küstenstrände und eine Welt, so nah, so fern und in sich ruhend mit humaner Würde.