Leben in Japan: Die Kimono Künstlerin Anji
Autorin Susanne Helmer
Am Anfang war da nur die Faszination für die japanische Sprache. Vor fast sechs Jahren zog die gebürtige Lüneburgerin Anji (28) schließlich in die Megacity Tokio – und fand in der Konformität der Masse zu echter Individualität. Hier erzählt sie von ihrem Leben in Japan.
Meine Liebe zu Japan begann mit Musik. Ich stand schon immer auf Rock und Metal. Eines Tages kam mein erster Freund mit einer CD von „D’espairs Ray“ zu mir, einer japanischen Rockband. Die hatte er zufällig bei Saturn entdeckt. Wochenlang hörten wir sie rauf und runter und besorgten uns die Alben weiterer „J-Rock“-Bands.
Von den japanischen Texten habe ich zwar kein Wort verstanden, aber ich fand den Klang der Sprache schön. So schön, dass ich einige Zeit später beschloss, sie zu lernen. Das war nicht ganz einfach neben meinem Job: Ich war damals Fluggerätmechanikerin bei Airbus in Hamburg und arbeitete im Schichtdienst. In einer Sprachschule konnte ich mich deshalb nicht anmelden. Ich besorgte mir aber ein Lehrbuch und schleppte es überall mit hin. In jeder freien Minute habe ich hineingeguckt. Da war so eine seltsame Motivation in mir. Im Internet suchte ich außerdem nach einem japanischen Tandem-Partner – und fand gleich zwei. Mit dem einen übte ich Japanisch. Mit dem anderen bin ich seit fünf Jahren verheiratet.
Am Anfang waren Yasushi und ich aber mehrere Monate lang nur Freunde. Als wir uns Ende 2007 kennen lernten, machte er gerade seinen MBA an der Universität Hamburg. Nach einer Weile gestand er mir, dass er sich in mich verliebt hatte. Das konnte ich aber nicht erwidern. So sehr ich ihn auch mochte, ich hatte damals einfach keine Schmetterlinge im Bauch.
Im April 2008, zur Kirschblüten-Saison, reiste ich zum ersten Mal nach Japan. Allein. Nach meiner Ankunft bin ich mit meinem Koffer direkt in den Stadtteil Shibuya gefahren, zur Scramble Crossing – der berühmten Kreuzung, an der bei einer Grünphase bis zu 3.000 Menschen gleichzeitig kreuz und quer die Straßenseite wechseln. Das hat mich total fasziniert.
Für meine Reise hatte ich mir einen Monat freigenommen. Ich wohnte erst ziemlich zentral in Tokio und bin dann zwei Wochen durchs Land gereist, unter anderem nach Kyoto, Osaka, Kanazawa und Hakone. Mir fiel auf, wie freundlich die Menschen überall waren. Auf persönlicher Ebene habe ich aber niemanden kennen gelernt. Dafür war ich die ganze Zeit per SMS mit Yasushi in Kontakt: Wenn ich ihm schrieb, wo ich gerade war, antwortete er sofort und stand mir mit Rat und Tat zur Seite. Auf diese Weise war er immer bei mir. Eines Abends wurde mir klar, wie viel ich doch für ihn empfand und wie sehr er mir fehlte. Auf eine seiner Nachrichten antwortete ich kurzerhand „Ich liebe dich“. Auf japanisch. Sei diesem Tag sind wir ein Paar.
Nach meiner Rückkehr zog Yasushi bei mir ein. Ein paar Monate später beendete er sein Studium – mitten in der Wirtschaftskrise. Er fand in den darauffolgenden Monaten in Deutschland einfach keinen passenden Job fand und trat schlussendlich eine Stelle in Shanghai an.
Die nächsten anderthalb Jahre waren hart, ich habe viel geheult in dieser Zeit. Meine Schichtarbeit und die Zeitverschiebung machten es uns schwer, regelmäßig zu skypen. Nach China zu ziehen, konnte ich mir absolut nicht vorstellen. Aber Tokio ließ mich nicht los. Die Stadt war schließlich auch Yasushis Heimat, wir waren öfter zusammen im Urlaub dort gewesen. Ende 2010 fasste ich mir endlich ein Herz: Ich ging nach Japan, mit einem einzigen Koffer, einem Work-and-Travel-Visum und der Hoffnung, dass Yasushi bald nach Tokio nachkommen würde. Das tat er ein halbes Jahr später auch.
Leben in Japan: So viele Menschen, so viele Regeln
Ich fing bei einer deutsche Firma an, die Ventile herstellte. Meine Aufgabe war der Kundenkontakt. Die ersten Monate kam ich bei Yasushis Eltern unter, die in der angrenzenden Präfektur Saitama nördlich von Tokio wohnen. Von dort aus bin ich jeden Tag zwei Stunden pro Strecke gependelt, musste morgens um sechs hoch und kam abends gegen zehn Uhr zurück. Dabei bin ich immer in Shinjuku umgestiegen, einem der größten Bahnhöfe der Welt. Die Menschenmassen, der Trubel – anfangs fand ich mein neues Leben in Japan unglaublich aufregend.
Aber ich verstand auch schnell, dass hier strenge Regeln gelten. Im Zug darf man weder telefonieren noch essen und während der Fahrt hat man seinen Rucksack abzunehmen. Ständig muss man sich irgendwo in Reih und Glied anstellen. Auch in der Arbeitswelt geht es hart zu: Japaner bekommen kaum Urlaub. In meiner deutschen Firma hatte ich zu Beginn 15 Tage im Jahr. Das ist überdurchschnittlich viel. Es gibt immerhin Ende April eine Feiertagswoche, die „Golden Week“. Da haben alle frei. Das macht dann aber auch keinen Spaß. Man kann nirgendwo hin, nichts unternehmen, weil alles völlig überfüllt ist.
Außerdem muss man hier Urlaub einreichen, wenn man krank ist. Deshalb schleppen sich Japaner auch halbtot noch zur Arbeit und haben permanent Angst, sich irgendwo anzustecken. Das ist übrigens auch der Grund, warum so viele hier an öffentlichen Plätzen Atemschutzmasken tragen: Entweder sie sind selbst erkältet und handeln aus Rücksicht oder sie wollen die Keime der anderen fernhalten.
Nach einem Jahr in Japan war meine Euphorie verflogen. Mein Bürojob ermüdete mich immer mehr. Und echte Freunde hatte ich hier auch noch nicht gefunden. Japaner sind immer busy, spontane Treffen gibt es nicht. In Deutschland ist es ja das Normalste der Welt, Freunde zu fragen: „Hey, hast du Lust, heute Abend zum Grillen vorbeizukommen?“ In Japan ist das nahezu undenkbar. Neue Kontakte bleiben hier generell oft oberflächlich, auch das habe ich ein paar Mal schmerzlich erfahren müssen. Das hat mich schon traurig gemacht.
Arbeiten in Tokio:
Andererseits entwickelte ich in dieser Situation ganz viel kreative Energie. Ich wollte mich ausdrücken, mich abheben, etwas Neues schaffen. Früher habe ich mich überhaupt nicht für Mode interessiert. Aber hier in Tokio fand ich mich plötzlich andauernd im Szeneviertel Harajuku wieder. Das ist das Mode-Mekka der Stadt, es gibt dort unzählige Läden mit ausgefallenen Klamotten. Auf den Straßen laufen verkleidete Cosplayer in Scharen herum und niemand wird wegen seines Aussehens schief angeguckt.
Da ging ich regelmäßig auf Schatzsuche. Besonders hatte ich es auf Vintage-Sachen und Street Fashion abgesehen, auf ungewöhnliche Einzelstücke. Irgendwann begann ich, mich mehr für Kimonos zu interessieren – ohne zu ahnen, welche Rolle die traditionelle japanische Kleidung einmal in meinem Leben spielen würde.
Noch bevor ich nach Japan ausgewandert war, hatte ich mal ein Leih-Stück in Kyoto anprobiert. Einen Kimono zu tragen, ist ein einmaliges Gefühl. Er kleidet dich ein und verändert dich komplett. Du hast dann eine bessere Körperhaltung und bewegst dich ganz anders. Als ich später, bei der Hochzeit von Yasushis Schwester, zum zweiten Mal einen Kimono trug, wollte ich unbedingt selbst einen besitzen.
Kimonos sind ein hochkemplexes Thema. Für mich sind sie Kunst. Wie Gemälde. Früher waren sie die normale Kleidung der Bevölkerung.
Sie konnten allerdings sehr teuer sein. Ihr bester Kimono hatte für viele Menschen den Stellenwert ihres Hauses. Oft waren die Stücke handbemalt und wurden in der Familie weitergereicht. Die meisten Japaner haben Kimonos von ihren Vorfahren im Schrank liegen, aber sie können sie gar nicht selbst anlegen. Das muss man nämlich erst einmal lernen, da gibt es allerhand zu beachten.
Ich begann, hin und wieder im Alltag Kimonos und andere auffällige Kleidung zu tragen, obwohl – oder gerade weil? – Individualität in Japan nicht so gern gesehen wird. Sich etwas schriller anzuziehen, ist hier höchstens in der Freizeit okay. Ansonsten gilt: bloß nicht aus der Masse herausstechen. Permanent wird man dementsprechend nach seinem Äußeren beurteilt, das kriegen schon kleine Kinder eingeimpft.
Bei mir ging der Drang nach Individualität so weit, dass ich mir die Haare bunt färbte wie zuletzt als Teenie. Dazu muss man wissen, dass man hier schon mit hellbraunem Haar auffällt. Ich kam also eines Tages mit knallgrünen Haaren zur Arbeit. Zu der Zeit war der Chef in der Firma ein Deutscher, der hat’s nicht ganz so schwer genommen. Aber insgesamt kam meine Veränderung nicht gut an. Ich allerdings hatte endlich wieder zu mir gefunden.
Meine Tage im Büro waren ohnehin gezählt. Nebenbei hatte ich mir einen Online-Shopping-Dienst im Internet aufgebaut, für Menschen aus Übersee. Viele japanische Shops liefern ja nicht ins Ausland oder nehmen keine ausländischen Kreditkarten an.
Inzwischen habe ich auch meine Leidenschaft für Kimonos zum Beruf gemacht. Ich habe mich auf antike und ungewöhnliche Stücke spezialisiert. Die suche ich mir bei diversen Händlern zusammen, bringe sie wieder auf Vordermann und hübsche sie individuell auf. Dann präsentiere ich sie, neben einigen selbst designten Produkten wie T-Shirts, Halsbänder und andere Accessoires, auf meinem Blog „Salz Tokyo“ und verkaufe sie über den dazugehörigen Shop ins Ausland. Die meisten Kunden kommen aus Europa und aus den USA, viele sind Sammler und genau so verrückt nach diesem Kleidungsstück wie ich. Auch mit dem Kimono-Styling will ich mein Geld verdienen.
Leben in Japan – Anji von Salz Tokyo hilft einer Kollegin bei der Anprobe
Bei der Arbeit: Bei einem gemeinsamen Fotoshooting kleidet Anji die New Yorker Designerin Sasa von „The Kimono Kid“ in einen ihrer antiken Kimonos
Yasushi hat sich vor drei Jahren als Consultant auch selbstständig gemacht. Wir sind zusammen sehr glücklich hier. Was ich an meinem Leben in Japan am meisten schätze, ist der superhöfliche, angenehme Umgang miteinander. Die Menschen hier denken nach, bevor sie etwas tun. Sie passen auf, dass sie anderen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Das gilt auch für den öffentlichen Raum: Man kann hier überall vom Boden essen, und das, obwohl es kaum irgendwo Mülleimer gibt.
Andererseits sagen Japaner nie, was sie wirklich denken. So weiß man meist nicht, woran man ist. Daran habe ich mich immer noch nicht vollständig gewöhnt. Ebensowenig wie an die allgegenwärtige Angepasstheit. Aber vielleicht beflügelt gerade die meine Kreativität.
Quelle: https://fluegge-blog.de/leben-in-japan-tokio-kimono/